Gibt es eine Post-Corona-spezifische Klimarettung oder ist Tempo 130 unsere Rettung?


Stand der Dinge

In den Stand 11/2021 stattfindenden Koalitionsverhandlungen zeichnet sich ab, dass Grüne und Rote ihre Vorliebe für Staatsdirigismus ausleben möchten.

Z. B. zeigt sich Annalena Baerbock darüber enttäuscht, dass das mit dem Tempolimit wohl nichts wird:

„Nachdem ein Tempolimit auf Autobahnen gleich zu Anfang von der FDP kassiert wurde, fragen sich die Grünen, wie es im Verkehrssektor nun zu CO2-Einsparungen kommen soll. “

https://www.welt.de/politik/deutschland/plus234927836/Ampel-Verhandlungen-Das-grosse-Grummeln-bei-den-Gruenen.html

Nun wäre zu fragen, warum es ausgerechnet das Tempolimit richten soll, wenn an anderer Stelle die E-Mobilität im Vordergrund steht, denn E-Mobilität und Tempo 180 schließen sich de facto aus.

Die Einsparungen (ca. 2 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr), die im Web herumgeistern sind sämtlich nicht begründet oder wenigstens plausibilisiert, dafür aber gerne mit Halbwahrheiten angereichert. Für letzteres möchte ich das Umweltbundesamt anführen:

„Ein Tempolimit auf Autobahnen hilft uns, die Treibhausgas-emissionen des Verkehrs in Deutschland zu senken. Bei Tempo 120 km/h liegen die Einsparungen bei 2,6 Millionen Tonnen jährlich. Selbst ein Tempolimit von 130 km/h reduziert die Emissionen bereits um 1,9 Millionen Tonnen – und zwar sofort und praktisch ohne Mehrkosten.“

https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/tempolimit-auf-autobahnen-mindert-co2-emissionen

Laut UBA würde also Tempo 120 6,6% (entsprechend 4,9% bei 130 km/h) der CO2-Emissionen von PKW und leichten Nutzfahrzeugen auf Autobahnen „praktisch ohne Mehrkosten“ einsparen.

Das ist richtig und doch gelogen, denn die Emission dieser Fahrzeuge beträgt nur 39,1 Mio. Tonnen/a, die Emission des Gesamtverkehrs liefert umwerfende 163 Mio. Tonnen.

D.h. relativ zur Gesamtemission sind die projizierten 2,6 Mio. Tonnen nur 1,6% wert, bezogen auf die in Rede stehenden Tempo 130 ergibt das 1,2% Einsparung.

Um es kurz zu machen: So werden wir das Klima nicht retten.

Außerdem schummelt das UBA natürlich, wenn es von „praktisch keinen Mehrkosten“ ausgeht, denn wenn ein Manager auf 100 km Strecke einen Schnitt von 180 km/h statt 130 km/h hinbekommt, ist er nicht in 46 Minuten da, sondern in 33 Minuten, das spart also ca. 25 € und kostet an Sprit ca. 5 l, bei heutigen Dieselpreisen also um die 7,50 €. Das ist nicht nichts und exakt der Grund, warum Gutverdiener beizeiten das Flugzeug dem Zug vorziehen oder den ICE dem Regionalexpress.

Corona-Effekte

Der erste Lockdown im Frühjahr habe bis zu 80 Prozent weniger Verkehr auf den NRW-Autobahnen zur Folge gehabt. „Bis zum Herbst erreichten die Verkehrsmengen dann aber mit gut 90 Prozent wieder beinahe das Vorjahresniveau.“ In der Folge habe es vor allem auf den hoch belasteten Strecken auch wieder mehr Staus gegeben. „Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt: Schon 20 Prozent weniger Verkehr bedeutet, dass der Verkehr auch in den Stoßzeiten flüssiger ist“, unterstrich NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU).

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verkehr-gelsenkirchen-weniger-autobahn-verkehr-im-corona-jahr-weniger-stau-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201223-99-792212

Dürfen wir also darauf hinweisen, dass Verkehrsvermeidung selbst nach Wiederanlaufen des Verkehrs mindestens das 8,3-fache der Verheißungen eines Tempolimits einbrachte?

Heuristik

Was aber wäre eine Alternative zum rotgrünen Lieblingsmittel (dem Verordnen des Verbots des Schnellfahrens)?

Nun, meine Heuristik sieht nach wie vor so aus:

  • Weighted Shortest Job First,
  • Vermeidung vor Ersatz.

Weighted Shortest Job First (WSJF) is a prioritization model used to sequence jobs (eg., Features, Capabilities, and Epics) to produce maximum economic benefit.

https://www.scaledagileframework.com/wsjf/, © Scaled Agile, Inc. Read the FAQs on how to use SAFe content and trademarks here: https://www.scaledagile.com/about/about-us/permissions-faq/
Explore Training at: https://www.scaledagile.com/training/calendar/

Im WSJF-Modell würde man sich also fragen, was mit den wenigsten Mitteln frühestmöglich den größten positiven Effekt bewirkt. Spoiler Alert: Elektromobilität steht dann garantiert nicht auf Platz eins.

Verkehrsvermeidung

Gerade die Corona-Erfahrung hat also gezeigt, dass das erzwungene Corona-Homeoffice 80% Verkehrsverminderung brachte. Wenn wir es also schaffen, verteiltes Arbeiten auch nur in Bruchteilen dieses Lockdown-induzierten Spitzenwerts wieder zu erreichen, haben wir deutlich mehr erreicht als mit jeder Geschwindigkeitsbeschränkung.

Und das kommt beileibe nicht nur der Umwelt zugute, denn andere Effekte werden sehr, sehr gerne vergessen:

  • Einzelfahrten sind in der Regel völlig unproduktiv, kosten also Freizeit oder Arbeitszeit. Ein Angestellter mit 60.000 € Jahreseinkommen und 1.500 Stunden Jahresarbeitszeit hat einen eigenen Stundensatz von 40 €.
  • Die reinen Spritkosten sind marginal im Verhältnis zu den Gesamtkosten: Bei 1,50 €/l Diesel kostet der Kilometer im Golf 0,09 €, während der ADAC im Winter 2021/2022 dem VW Golf 2.0 TDI SCR Life mit kleinem Motor (!) Gesamtkosten von 0,52 €/km attestiert. Sprit macht also nur 17% der Gesamtkosten aus.
  • Die Autobahnen sind in den Ballungszentren alle an ihren Belastungsgrenzen, d.h. erfordern jenseits der hauptsächlich LKW-bedingten Reparatur seit Jahrzehnten die immerwährende Verbreitung, d.h. Naturzerstörung. Mit einer Verkehrsabnahme nimmt plötzlich der Verkehrsfluss, d.h. die durchschnittliche Geschwindigkeit überproportional zu.
  • Wenn (im immer noch häufigen klassischen Rollenmodell…) der Vater von Bochum nach Düsseldorf fährt und seine Frau in Bochum Lehrerin ist, kann nur eine Person das kränkelnde Kind mittags von der Kita abholen: Die Frau. Wenn der Mann zuhause oder mindestens in der Nähe seines Wohnortes bliebe, könnte er zwischen zwei Businessterminen auschecken, das Kind nachhause holen und wieder einchecken. Was ist das wert?
  • Im Homeoffice ist alles billiger: Das Essen, der Kaffee, das Wasser.

Alles in allem tippe ich für unser Bochum-Düsseldorf-Szenario (50 km One-Way…) auf tägliche Einsparungen von…

  • 14,2 kg CO2
  • 52 € Autokosten, 80 € Freizeit und 5 € pro Tag an Lebensmittelkosten addieren sich zu einem Tagesgewinn von 138 €. Der steuerliche Effekt kann noch unberücksichtigt bleiben, weil bis 4.800 € Kosten die Fahrt trotzdem abgerechnet werden dürfen, wenn nur ein Auto in der Familie verbleibt.
  • Wenn ein Kilometer Autobahn 20 Mio. € kosten und 30 Jahre halten, kosten sie bei 80.000 Verkehrsteilnehmern übrigens nur 1,14 pro Nase und Tag.
  • Der Gewinn an Lebensqualität ist wohl kaum zu monetisieren.

In Summe bringen 10.000 weniger Pendler auf einer einzigen Autobahn der A52 zwischen Essen und Düsseldorf eine Einsparung von 31.000 Tonnen CO2 (220 Arbeitstage) und jedem einzelnen Pendler 11.000 € mehr in der Tasche und fast 500 Stunden mehr Freizeit.